Dienstag, 14. Oktober 2008

Ein Foltertagebuch

Der Tod von Engin Ceber wirft ein düsteres Licht auf die Türkei. Der Mann, der festgenommen wurde, weil er eine Zeitschrift verteilte, starb an den Folgen übelster Misshandlungen. Ob Einzelfall oder nicht, die perverse Chronik seines Leids muss zum Schandfleck auf der Weste der Türkei werden.

28. September 2008
Engin Ceber wurde am 28. September 2008 im Istanbuler Stadtteil Sariyer verhaftet, weil er die Zeitschrift “Yürüyüs” verkaufte. Das Mitglied der Föderation für Grundrechte tat dies gemeinsam mit Özgür Karakaya, Cihan Gün, Aysu Baykal und Gözde Buldu. Die Polizei unterband den Verkauf der Zeitschrift, prügelte auf die Aktivisten ein und verbrachte sie auf die Polizeiwache in Istinye.

Der diensthabende Arzt des Krankenhauses in Istinye notierte um 17:40 Uhr zum Gesundheitszustand Cebers: “Abschürfungen auf der Oberlippe, Schwellungen auf dem linken Augenlid, Abschürfungen auf dem rechten Knie und Ellenbogen, 4x5cm große Schwellung auf dem Hinterkopf…”

29. September 2008
Gleich in den ersten Stunden dieses Tages wurden die Festgenommenen wieder ins Krankenhaus in Istinye gebracht. Der diensthabende Arzt stellte um 1:20 Uhr fest, dass das Maß an körperlicher Misshandlung stetig anstieg: “5x5cm große Quetschung am rechten Augenlid,1x1cm großer Riss am linken Augenlid, Schwellungen am rechten Frontal und Temporal. Der Patient klagt über Kopfschmerzen. 1x1cm großer Riss am rechten Knie. Kann in Folge von Schleifen oder Tritt erfolgt sein.”
Darauf hin wurde Ceber ins Etfal Krankenhaus in Sisli verbracht. Dort wurde festgestellt, dass die Schädelverletzungen Cebers nahe legen, dass diese auf Gewalteinwirkungen zurück gehen. Am selben Tag wurden die Festgenommenen in Sariyer wegen Widerstands gegen Polizeibeamte angeklagt. Alle außer Gözde Buldu wurden verhaftet, die Männer ins Gefängnis Metris gebracht. Die Anwälte der nun Angeklagten wiesen darauf hin, dass im Rahmen dieser Anklagepunkte kein Haftbefehl nötig sei und ihre Mandanten vorläufig auf freiem Fuß bleiben könnten.
Enging Ceber erklärte dem Arzt bei seiner letzten Untersuchung im Krankenhaus in Istinye, dass er aufgrund von Schlägen starke Kopf- und Rückenschmerzen habe.

30. September - 5. Oktober 2008
Während die Türkei das Zuckerfest feierte, erlitten die Insassen des Metris Gefängnisses unvorstellbare Qualen. Cihan Gül gab in einer späteren Aussage Folgendes zu Protokoll: “Die Gendarmerie forderte uns dazu auf, uns zu entkleiden. Wir lehnten dies ab. Darauf hin trat ein kurzhaariger und helläugiger Offizier hervor und schlug mit einem Holzknüppel 2 bis 3 Minuten auf unsere Körper und Köpfe ein. Unsere Kleider wurden uns mit Gewalt vom Leib gerissen… Am Dienstag Morgen waren wir nicht in der Lage, uns zum Frühappell aufzustellen, weswegen 4 bis 5 Vollzugsbeamte mit Eisenstangen, Plastikstühlen, Hände und Füßen 5 Minuten auf uns einprügelten. Aus dem selben Grund wurden wir Dienstag Abend von 15 Beamten 15 Minuten geprügelt. Am Mittwoch schlugen 15 Vollzugsbeamte 30 Minuten mit den erwähnten Gerätschaften auf uns ein…”

6. Oktober
Der Rechtsanwalt des Büros für das Recht des Volkes Taylan Tanay besuchte nach dem Ende der Feiertage die Insassen des Gefängnisses Metris. Ceber erklärte seinem Anwalt, dass er zweimal täglich schwer geprügelt und misshandelt werde und er befürchte, das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen zu können.

7. Oktober 2008
Die Anwälte Taylan Tanay und Oya Aslan verständigten die Ärztekammer Istanbuls und den Verein Zeitgenössischer Juristen (CHD) und ersuchten um die sofortige Bildung einer Delegation

8. Oktober 2008
Eine fünfköpfige Delegation von Juristen des CHD wurde morgens im Gefängnis Metris vorstellig. Als die Delegation forderte, auch Engin Ceber zu Gesicht zu bekommen, wurde ihnen mitgeteilt, dass der Gefängnisdirektor sie erwarte. Sein Anliegen: “Wir haben schlechte Nachrichten, er ist verstorben…” Cebers Zustand hatte sich in der Nacht zuvor dramatisch verschlechtert, so dass er ins Krankenhaus Istinye eingeliefert wurde.

9. Oktober 2008
Die Anwälte und die Familie Cebers fanden sich vor dem Krankenhaus in Istinye ein. Die Gendarmerie sicherte die Tür und ließ die Angehörigen nicht zu Cebers Leiche vor. Ceber war an einem Hirntod gestorben.

10. Oktober 2008
Die Ärzte erklärten den 29-jährigen Engin Ceber offiziell für tot.


Epilog

Der türkische Justizminister Mehmet Ali Sahin hat heute vor der Presse verkündet, dass 19 Personen, die verdächtigt werden, an dem Tod Cebers schuldig zu sein, suspendiert wurden und dass gegen diese Personen Ermittlungen liefen. Er entschuldigte sich im Namen der Republik Türkei und im Namen seiner Regierung für den Tod Cebers. Sahin erklärte, dass im Verlauf der Ermittlungen gegen noch mehr Personen ermittelt werden könne. Unter den suspendierten Personen befinden sich neben diversen Vollzugsbeamten auch ein Arzt, der Ceber bescheinigt hatte, bei guter Gesundheit zu sein, ohne diesen in Augenschein genommen zu haben.