Zwischen türkischen Rechtsgelehrten tobt momentan ein Streit darüber, ob das höchste türkische Gericht im Zuge der Urteilsfindung zum Tragen von Kopftüchern an Universitäten seine Kompetenzen überschritten habe. Nach der immer noch gültigen Putsch-Verfassung von 1982 darf das Verfassungsgericht nur noch formale Aspekte der Entscheidungsfindung prüfen. Damit ist das türkische Verfassungsgericht jedoch de facto in seiner für eine funktionierende Gewaltenteilung notwendigen Kontrollfunktion depriviert. Wenn das Verfassungsgericht die Exekutive inhaltlich nicht mehr korrigieren darf, so sind die nicht nur politikwissenschaftlich relevanten "checks and balances" obsolet.
In den Kommentaren der AKP kommt mit Verbitterung zur Sprache, dass das Verfassungsgericht sich mit diesem Urteil exekutive Funktionen angemaßt habe und die Demokratie beschädigt habe. Der ehemalige Parlamentspräsident Bülent Arinc reagierte am Härtesten und stellte sogar in Frage, ob die Türkei noch eine Republik sei. Mustafa Şentop, der gerne in Medien wie der der Fethullah-Bewegung nahe stehenden „Zaman“ schreibt und Dozent für Verfassungsrecht an der Marmara-Universität ist, sekundiert im aktuellen Spiegel freudig in der von Arinc implizit gestellten Systemfrage und spricht von einer „Juristokratie“.
Der Experte für türkisches Recht Prof. Dr. Christian Rumpf schreibt hierzu folgendes: "Zwar darf das Verfassungsgericht eine Verfassungsänderung nur dann für nichtig erklären, wenn es einen Formfehler feststellt, aber es gehört der Rechtsprechung zufolge zu den Formfehlern, wenn man eine Verfassungsänderung vornimmt, die nicht nur materiell gegen andere Bestimmungen oder den Geist der Verfassung verstößt, sondern anhebt, an den Grundfesten der Verfassungsordnung zu rütteln."
So viel vorweg, auch ich empfinde es als Skandal für die Demokratie, wenn Menschen wegen eines Stückes Stoff ihrer Grundrechte beraubt werden. Zu diesen Rechten gehört auch das Recht auf die höhere Bildung. Entscheidend sollte immer sein, was eine Person im Kopf hat und nicht das, was sie auf dem Kopf hat.
Leider bestärkt die türkische Wirklichkeit die Laizisten in ihrer Auffassung, dass ein Kopftuchverbot eine nicht zu unterschätzende Schutzfunktion ausübt, die den Verschleierungszwang auf die nicht verschleierten Studentinnen abfängt. Diesen Islam-Ruck bekommen nicht nur Frauen zu spüren. Auch türkische Nationalsportler, in diesem Fall Ruderer, wurden erst vor kurzem als „Gottlose“ beschimpft und verprügelt, nur weil sie es wagten, nach absolvierten Trainingseinheiten in kurzen Hosen durch eine Ortschaft zu gehen.
Der Doyen der türkischen Soziologie, Şerif Mardin, der sich seine wissenschaftlichen Meriten u.a. an den Universitäten Stanford und Princeton erwarb, spricht in diesem Zusammenhang von einem sozialen Phänomen, dass er schlicht “Nachbarschaftszwang” (“mahalle baskısı”) nennt. Nach diesem Theorem sind in einer immer konservativeren und religiöseren Gesellschaft die der Moderne zugetanen Individuen einem immer stärkeren Anpassungsdruck ausgesetzt, dem sie kaum standhalten können, da die kemalistische Elite keine Doktrin darüber ausgarbeitet habe, was “gut, richtig und schön” sei, sondern sich vielmehr über die negative Abgrenzung vom Traditionellen, und in ihren Augen somit Rückständigen definiert habe.
Freitag, 6. Juni 2008
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