Donnerstag, 19. Juni 2008

Die Repititorien müssen weg - und dürfen bleiben

Das türkische Schulsystem führt seine Schüler zum Ende der Gymnasialzeit einem ca. drei Stunden dauernden Massentest zu, der über die gesamte Zukunft eines Schülers/einer Schülerin entscheidet.

Durch die Teilnahme an diesem Test wird eine Punktzahl erreicht, die zum Studium gewisser Studienfächer berechtigt. Beliebte Fächer wie Medizin, Jura und Wirtschaft erfordern deutlich höhere Punktzahlen als Fächer wie Philosophie oder Tourismusmanagement. Allerdings ist die bevorzugte Hochschule ebenfalls entscheidend, denn die Bosporus-Universität in Istanbul hat eine wesentlich höhere Mindestpunktzahl als z.B. die Universität Dicle bei Diyarbakir.

Nutzniesser dieses Systems sind private Repititorien, auf die die Schüler von den Eltern geschickt werden, um bei den Test erfolgreich abzuschneiden. Die mitunter recht kostspieligen Repititorien belegen regelmäßig die vorderen Plätze bei den Tests, die sogar mit einem eigenem Film ("Sinav" mit Jean-Claude van Damme als Meisterdieb, der die Testergebnisse für eine verzweifelte Schülerclique stehlen soll) gewürdigt wurden. Dies belegt nicht nur das mangelnde Vertrauen in die inhaltliche Vermittlungskompetenz der regulären Schulen, sondern ist auch Resultat einer Bildungspolitik, die gestandene Lehrer und Konrektoren dazu zwingt, in ihrer Freizeit Taxi zu fahren, um finanziell über die Runden zu kommen. Die Abschaffung dieses Systems wird seit langem gefordert, doch hat sich bis dato kein türkischer Politiker ernsthaft an dieses Thema gewagt.

Nun hat Ministerpräsident Erdogan sich erstmals negativ über die Repititorien geäußert, was sofort Anlass zur Hoffnung gab, der Premier würde sich dieses Problems annehmen. Wie der Kolumnist Ahmet Hakan von der Zeitung "Hürriyet" schreibt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Erdogan dies tun wird, gleich null, da die Repititorien zu einem sehr großen Teil in der Hand von religiösen Bruderschaften seien. Ein Vorgehen gegen diese Bildungslobby wäre ein Schlag gegen seine treuesten Wähler.