Das gestrige „Duell“ zwischen Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) und Dengir Mir Mehmet Fırat (AKP) versammelte für rund 1,5 Stunden die türkische Öffentlichkeit vor den Bildschirmen. Der Grund für das von 50 TV-Kameras verfolgte Spektakel: gegenseitige Schuldzuweisungen zweier Politiker. Die Vorwürfe selbst sind nicht von Pappe: So wird dem stellvertretenden AKP-Vorsitzenden vorgeworfen, an einer Firma beteiligt zu sein, die aufgrund von Scheingeschäften gerichtlich belangt wurde und auf deren LKWs Heroin transportiert wurde. Für die im Spendenskandal um den Verein „Deniz Feneri e.V.“ in Mitleidenschaft gezogene AKP war dies ein Fiasko.
Die Beobachter des gestrigen Schlagabtauschs attestierten den Kontrahenten ein demokratisches, zivilisiertes Auftreten. Angesichts der Verleumdungen, ja, Beschimpfungen, die beide im Vorfeld über einander ergehen ließen, war dies sicher ein Fortschritt. Nach Abschluss der Diskussion unter der Leitung von Uğur Dündar, einem türkischen Ulrich Meyer, sahen viele den CHP-Fraktionsvize knapp vorn.
Tatsächlich ist jedoch weder Kılıçdaroğlu der Gewinner, noch Fırat der Verlierer. Der eindeutige Gewinner dieser „Debatte“ sind die Medien, die sich, nach dem Steilpass eines Parlamentariers, der seiner eigenen Justiz kaum mehr zu trauen scheint, darin ergötzen konnten, das türkische Parlament in ein „Big Brother“-Haus verwandelt zu haben. Jedes Zucken im Gesicht der Beteiligten wurde zu einer Nachricht auf den Newstickern. Dieser „Sieg“ der Medien hat jedoch einen schalen Beigeschmack. Wollte man ernsthaft behaupten, dass türkischen Medien die Rolle eines gesellschaftlichen Korrektivs zufiele, würde man herrschende Realitäten verkennen.
Nun zu den Verlierern. Vorwürfe dieser Art sollten vor einem Zivilgericht geklärt werden, unter dem Vorsitz unabhängiger Richter, und nicht vor den geifernden Objektiven sensationsgeiler Medien. Dass man diesen Weg nicht hat beschreiten wollen, zeigt nicht nur das mangelnde Vertrauen in diese Institution. Es zeigt ein tiefes Misstrauen gegenüber einem System, das über keine Selbstheilungsmechanismen verfügt. Die türkische Presse: 1, die türkische Justiz: 0? Nein. Der demokratische Rechtsstaat: 0. Er ist es, der schon lange verloren hat. In dem eine seiner Gewalten zugunsten selbstdarstellerischer Zwecke suspendiert wurde, zeigt sich die Fragilität seiner Architektur.
Dies ist in der türkischen Politik freilich kein Novum. Das kemalistische Postulat des „Halkçılık“, des Populismus, sah vor, dass jeder Bürger, gleich seiner Herkunft, Religion oder Sprache Teil eines gesellschaftlichen Gesamtgefüges war, welches dem Staat seine Souveränität lieh. In seiner überkommenen Auslegung verkümmerte dieses Prinzip türkischer Politik zum „reden nach des Volkes Mund´“. Politiker jeglicher Couleur finden Gefallen daran, ihre Thesen regelmäßig im Prisma der Stammtische zu brechen. Der Klassenprimus: Ministerpräsident Erdoğan. Geht es um das Verbotsverfahren, mokiert sich der Premier über die Unverfrorenheit eines Gerichts, welches gegen den Willen des Volkes agiere. Ist das Kopftuchurteil das Thema, so findet Erdoğan es skandalös, dass ein Gericht es sich herausnimmt, seine Regierung, mithin die Stimme des Volkes, zu übergehen. Die Stimme des Volkes?
Wo will der Mann hin? Wenn das türkische Volk keine Steuern mehr bezahlen will, stimmt er dem dann auch zu? Wenn jeder türkische Bürger sagt, wir lösen die Zentralbank auf und teilen die Goldreserven unter uns auf, nickt er dies ab? Dem Volk schmeichelt es sicher, wenn der Ministerpräsident seinen misera plebs - zumindest verbal - dermaßen hoch schätzt. Hinreichend bekannte Episoden über Erdoğans aufeinandertreffen mit einfachen Menschen aus dem Volk sprechen eine andere Sprache
Selbstverständlich ist das Volk der Souverän des türkischen Staates, so steht es auch in der Verfassung. In der Verfassung steht aber auch, dass der Souverän seine Macht über die in der Verfassung festgelegten Organe wahrnimmt. Gesundes Vertrauen in die Institutionen des Staates, welches sich freilich durch Taten rechtfertigen muss, ist der höchste Dienst am türkischen Volk, denn nur dies gibt ihm seine Stimme zurück.
Freitag, 26. September 2008
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